Sie ist gekommen, um ihre Geschichte zu erzählen und ihre Botschaft zu vermitteln:
„Ihr habt keine Schuld an dieser Zeit. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Zeit wissen wollt. Ihr müsst alles wissen, was damals geschah“.
Diese Worte über das nationalsozialistische Deutschland richtet Esther Bejarano an ihr jugendliches Publikum. Als Jüdin, die 1924 geboren wurde, hat sie den Terror des Hitler-Regimes am eigenen Leib erfahren müssen, unter anderem als Häftling im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und im Konzentrationslager Ravensbrück.
Am 8. November, einen Tag vor dem 80. Jahrestag der Reichspogromnacht, durfte das Schwalmgymnasium die engagierte Kämpferin gegen das Vergessen, gegen den fortwährenden Antisemitismus und für den Frieden empfangen. Finanziell gefördert durch das Programm „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und organisatorisch unterstützt durch die Gedenkstätte und Museum Trutzhain war das Zeitzeugengespräch möglich geworden. Dabei las Bejarano aus ihrem Buch „Erinnerungen“ und beantwortete anschließend zahlreiche Fragen der Schülerinnen und Schüler sowohl zu ihrer Vergangenheit als auch zu ihrer Sicht auf aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Nicht nur ihr Schicksal, auch die starke, lebensfrohe und sympathische Persönlichkeit der heute 93-jährigen Bejarano hinterließ bleibenden Eindruck bei den rund 140 Schülerinnen und Schülern der Oberstufe und ihren Lehrkräften.
Dass man in der Schule, noch dazu in der Turnhalle, eine Stecknadel fallen hören könnte, kommt nicht allzu oft vor. Doch den Worten von Esther Bejarano lauscht die Schülerschaft so gebannt, dass es möglich wäre. Schließlich ist das, was die Rednerin während der NS-Zeit erleben musste, so bedrückend und unbegreiflich - und gerade deshalb so wichtig zu hören.
Schon früh, so erzählt sie auf Nachfrage eines Schülers, habe sie die Auswirkungen der nationalsozialistischen Ideologie zu spüren bekommen. „Wir mussten aus der Schule raus. Das war für uns damals ganz schlimm. Und die christlichen Freunde haben sich von uns abgewandt, sie wollten nichts mehr mit uns Juden zu tun haben“. Als 16-Jährige erfuhr Esther Loewy, wie sie damals hieß, dann von der Deportation ihrer Eltern, indem sie aufgefordert wurde, deren Wohnung zu räumen. Dass sie 1941 erschossen und in einem Massengrab verscharrt worden waren, hörte die Tochter erst nach dem Krieg. Sie selbst wurde im April 1943, gemeinsam mit anderen jüdischen Menschen, darunter einigen Freundinnen, in einem überfüllten Viehwaggon ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo furchtbare Zustände herrschten. Dort musste sie zunächst in einer Arbeitskolonne schwere Steine auf einem Feld zusammentragen. „Ich glaube, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, aus dieser Kolonne rauszukommen, wäre ich wohl elendig zugrunde gegangen“, sagt Esther Bejarano. Doch die Musik habe ihr „das Leben gerettet“: Schon früh war sie mit der Musik in Berührung gekommen, eine Leidenschaft, die ihr ganzes Leben lang besondere Bedeutung haben sollte. Als in Auschwitz ein Mädchen-Orchester gegründet wurde, sah sie, die als Kind Klavier spielen gelernt hatte, ihre Chance. Doch ein Klavier gab es in Auschwitz nicht, dafür ein Akkordeon. „Ich hatte nie ein Akkordeon in der Hand. Aber ich sagte, ich könne spielen“, erinnert sich Esther Bejarano. Es sei „wie ein Wunder“ gewesen, dass sie die richtigen Akkorde getroffen habe und ins Orchester aufgenommen worden sei. Die erbärmlichen Lebensbedingungen hätten sich dadurch leicht verbessert. Doch „eine schreckliche psychische Belastung“ sei dazugekommen, denn die Mädchen spielten nicht nur Marschlieder, wenn die Arbeitskolonnen morgens aus- und abends einrückten, sondern auch, wenn neue Transporte ankamen, die Menschen aus ganz Europa brachten, die „direkt ins Gas kamen“.
Da sie „arisches Blut“ hatte, ihre Großmutter war christlich, wurde Esther Bejarano im November 1943 in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück verlegt und als Zwangsarbeiterin bei Siemens eingesetzt, wo sie Schalter für Unterseebote bauen musste. In Ravensbrück erfuhr sie Ende April 1945 vom Näherrücken der Alliierten. Alle Häftlinge, die noch einigermaßen laufen konnten, wurden daraufhin auf einen so genannten „Todesmarsch“ geschickt, eine massenhafte Gefangenenverlegung von einem Lager zum anderen mit dem Ziel, die Front möglichst weit hinter sich zu lassen. Sie und sechs ihrer Freundinnen flohen unterwegs in einem Waldstück aus der Kolonne, nachdem sie mitgehört hatten, wie ein SS-Mann zum anderen sagte, es dürfe nicht mehr geschossen werden. Schließlich kamen ihnen amerikanische Panzer entgegen. Die Soldaten nahmen sie mit, luden die ausgehungerten Mädchen zum Essen ein, ließen sich ihre Geschichte erzählen, besorgten sogar ein Akkordeon und organisierten ihnen Hotelzimmer im mecklenburgischen Lübsch. Am nächsten Tag, als sie wieder zusammensaßen, marschierte dort die Rote Armee ein. „Die amerikanischen und russischen Soldaten begrüßten, umarmten und küssten sich. Alle waren glücklich, dass der Krieg endlich beendet war“, erinnert sich Esther Bejarano. Was dann kam, „war meine Befreiung vom Hitler-Faschismus“: Auf dem Marktplatz zündeten die Soldaten ein großes Hitler-Bild an. „Die Soldaten und die Mädchen aus dem KZ tanzten um das Bild herum und ich spielte Akkordeon.“
Nach dem Krieg ist Esther Bejarano nach Israel ausgewandert, hat dort ein Gesangsstudium absolviert, ihren Mann kennenglernt und eine Familie gegründet. 1960 führte ihr Weg dann wieder zurück nach Deutschland – keine leichte Entscheidung. Über das, was sie erlitten hat, hat sie jahrelang geschwiegen. Anfang der 70er Jahre änderte sich das. Konfrontiert mit „schrecklichen Slogans“ von Neonazis in Hamburg und der Lüge, Auschwitz-Insassen seien alle Verbrecher gewesen, habe sie beschlossen „Ich muss jetzt was machen und meine Geschichte erzählen“. Gegen Antisemitismus, Rassismus, Gewalt und Krieg kämpft sie beispielsweise mit Lesungen aus ihren Memoiren, Vorträgen an Schulen und Konzerten.
Angesprochen auf aktuelle Entwicklungen äußert sich Bejarano besorgt. „Heute haben wir wieder eine ähnliche Situation. Viele Nazis, die auf den Straßen marschieren. Für mich ist das ein Unding. Ich kann kaum glauben, dass nichts dagegen getan wird von der Regierung. Das ist etwas sehr Schlimmes. Wir müssen dagegen angehen, denn ich weiß, was daraus werden kann.“ Man könne in Deutschland machen, was man wolle, auch wenn es im Gegensatz zum Grundgesetz stehe, kritisiert Bejarano. „Dass Juden und andere Minderheiten verfolgt und getötet werden, sowas darf es einfach nicht mehr geben.“ Auch die Kritik an der Aufnahme von Flüchtlingen könne sie nicht verstehen. „Man muss sich um diese Flüchtlinge kümmern. Was die alles mitgemacht haben! Sowas Unmenschliches! Davor müssen wir uns hüten: vor dieser Unmenschlichkeit!“ Mit den Worten „Ich wünsche euch und uns allen Frieden“ verabschiedet sich eine Frau, die erfahren hat, warum es sich dafür zu kämpfen lohnt.
Wer mehr über Esther Bejaranos Leben erfahren möchte, kann ihr Buch „Erinnerungen. Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen rechts“ demnächst in der SG-Mediathek ausleihen.